Warum interkulturelles Wissen eine HR-Zukunftsressource ist

Im heutigen Beitrag spricht Dr. Christian Peter Oehmichen über interkulturelles Wissen und dessen enorme Relevanz. Er ist promovierter Ethnologe und hochschulzertifizierter systemischer Coach mit den Schwerpunkten Integration (speziell von Flüchtlingen), interkulturelle Kommunikation und Körpersprache. Dr. Oehmichen lehrte an den Universitäten Marburg, Frankfurt am Main und Heidelberg. Hierbei arbeitet er mit Einzelpersonen, Teams und Gruppen, in der qualifizierten, systemisch-interkulturellen Weiterbildung sowie als Sporttrainer interkultureller Teams. Ich freue mich sehr, dass Dr. Oehmichen mit seinem umfassenden Wissen wissenswertes-blog  bereichert.

Interkulturalität ist in aller Munde, aber…

Die Zahl interkultureller Trainer, Agenturen, die hauptsächlich in diesem Bereich aufgestellt sind, ganzer Netzwerke und Organisationen sowie Weiterbildungen hat im Laufe der letzten zehn Jahre drastisch zugenommen. Auch ist die Bedeutung von Interkulturalität als Thema des HR-Managements deutlich angestiegen. Alles läuft doch wunderbar, möchte man meinen. Weitgefehlt. Immer noch werden Großaufträge an Mitbewerber aus anderen Ländern vergeben, weil deutsche Vertreter*innen eklatant gegen dortige Höflichkeitskonventionen verstoßen. Ein markantes Beispiel berichtete mir ein Bekannter und ich sehe es als exemplarisch an, auch für eine Wahrnehmung wirtschaftlicher Potenziale auf dem afrikanischen Kontinent. In diesem Fall hatte die Regierung eines westafrikanischen Landes einen Bauauftrag für Sozialwohnungen mit einem Auftragsvolumen von umgerechnet 5 Mrd. € international ausgeschrieben. Ein Berater, der in Deutschland studiert hatte, empfahl eine deutsche Firma. Diese bestand nun ihrerseits darauf, dass die Flugtickets und Hotelkosten für die Vorgespräche von Seiten der Regierung getragen würden, was als eindeutige Beleidigung empfunden wurde. Der mir bekannte Berater war so großer Empörung darüber ausgesetzt, dass der zuständige Minister beinahe die Kooperation mit ihm einstellen wollte. Den Auftrag erhalten hat schließlich eine türkische Firma, die nicht nur ihre Flug- und Hotelkosten der Vorgespräche selbst trug, sondern sich zudem über exquisite, kleinere Konsumgüter Gedanken gemacht hatte, welche in dem westafrikanischen Land Seltenheitswert haben. Diese Handlungsweise ist als Gastgeschenk zu verstehen, was auch in Deutschland gute Tradition hat, jedoch nicht als Bestechung. Man bringt seinem*r Gastgeber*in etwas mit, das sie / er besonders schätzt, einen guten Wein, Nougat, Kaffee, Tee etwa. Solche Strategien möchte ich als kultursensibles Verhalten bezeichnen. Doch auch bei interkulturellen Situationen im Inland kommt es immer wieder zu völlig unnötigen Entwicklungen. Jugendliche mit Migrationshintergrund wurden in mehrere kostenintensive Maßnahmen eingebettet, die auf ein bis zwei Maßnahmen reduzierbar wären, wenn man die angemessenen Kommunikationsstrategien mit den Entscheidungsträgern der Familien kennen würde. Die Kette an Beispielen ließe sich beliebig weiterspinnen und könnte Seiten füllen. Allen ist gemein, dass sie zusammengerechnet innerhalb eines Jahres sicherlich einen zweistelligen Milliardenbetrag ausmachen. Finanzmittel, die sich dringend sowohl in den klammen Kassen der Kommunen, als auch für das marktaffine Finanzverhalten von Unternehmen jeder Größenordnung wesentlich sinnvoller und vor allem zielgerichteter investieren ließen:

in unsere Zukunft!

Wenn man Zeitungsartikel der letzten zwei Jahrzehnte nach einer Beschreibung von Hinweisen auf ein kulturelles Selbstbild in Deutschland durchsucht und positive Formulierungen betrachtet, so wird folgender Aspekt häufiger genannt und gern betont: Im Land der Dichter und Denker gelten Wissen und Bildung als einzig genuine Ressource.

Mit dem Begriff „Ressource“ meine ich grundsätzlich in diesem Kontext eine Ansammlung von Potenzialen.

Deutschland blickt auf eine lange Reihe von prägenden Philosophen*innen, Wissenschaftler*innen aller Couleur, Mediziner*innen, Erfinder*innen, Literaten*innen, Künstler*innen und Musiker*innen zurück. Neben der dunklen Vergangenheit, welche eine eindeutige besondere Verantwortung mit sich bringt, liegt für mich hier ein wesentlicher Schlüssel verborgen, sowohl auf unser Selbstverständnis bezogen, als auch auf Betrachtungen Angehörigen anderer Kulturen gegenüber. Bewusst gewählt erfolgte an dieser Stelle eine Konzentration auf Ressourcen. Keinesfalls ist dies als nationalistisch gemeint, aber es gibt neben den wirtschaftlichen und sozialen Anreizen eindeutige Gründe, warum Deutschland Einwanderungsland Nummer zwei weltweit ist. Bezogen auf interkulturelles Wissen zeigt sich in diesem Abschnitt eine Fokussierung auf positive Aspekte und in diesem Sinne Ressourcen anstelle von Defiziten. Hiermit soll nichts schöngeredet werden, auch bestimmte Defizite, wie kulturell verankerte Formen von Gewalt und Diskriminierungen, müssen zum Teil ganz bewusst und offen angesprochen werden. Die Suche nach Ressourcen und Kompetenzen führt sehr schnell zum Umgang mit Ähnlichkeit und Differenz, betont aber in beiden Fällen eine Wertschätzung des Gegenübers.

Das führt zu einem Perspektivenwandel

Eine Ausrichtung auf Ressourcen anstelle von Defiziten bedeutet immer, fortwährend nach Potenzialen und Lösungen zu suchen. Solche Potenziale liegen in einer wertschätzenden Wahrnehmung anderen Kulturen und Ethnien gegenüber an Stelle von Stereotypen. Anders als in den USA werden in Deutschland türkischstämmige Mitbürger sehr häufig defizitorientiert betrachtet, gelungene Beispiele von Integration noch zu selten betont und es wird viel weniger auf die ethnische Vielfalt der Türkei geblickt. Allen voran hatte die Türkei etwa in ihren kemalistischen Grundwerten, bei aller berechtigten Kritik, eine konsequente Trennung von Religion und Staat inklusive staatlicher Qualifikation und deutlicher Kontrolle der Imame praktiziert. Aktuelle Entwicklungen entfernen sich leider deutlich von diesen Grundwerten. Ferner hat es mit islamischen Kulturen nachhaltigen Austausch gegeben, der für uns heute so selbstverständliche Konzepte wie Universitäten, Quelltexte griechischer Philosophen oder Thermen möglich werden ließ, denn europäische Kulturgemeinschaften haben solche vorrömischen und römischen Elemente nur selten erhalten können. Die aktuelle öffentliche Wahrnehmung islamischer Glaubensgemeinschaften verzerrt tendenziell komplexe historische Zusammenhänge, reduziert die Vielfalt der unterschiedlichen Glaubensrichtungen und fokussiert sich auf das rein Religiöse in permanenter Betonung der Defizite. Somit wird eine unnötige Abgrenzung erzeugt, wo Zusammenhalt angesichts aktueller Herausforderungen wie des Klimawandels und anderer Bedrohungen dringend notwendig ist.

Wie lässt sich der Perspektivenwandel einer Ressourcenorientierung konkret umsetzen?

Drei Fragen sind für mich persönlich bei der Interaktion mit Angehörigen anderer Kulturen tragendes Element eines Dialoges:

  • Welches sind die Besonderheiten, Elemente, die nur in dieser Kultur zu finden sind?
  • Was kann ich also davon lernen?
  • Wo liegen die Gemeinsamkeiten mit mir?

Schön, aber was bedeutet dieser Beitrag für meine konkrete Arbeit, mein alltägliches Leben?

Wissen um kulturelle Zusammenhänge und Hintergründe, wie die Bedeutung von Hafis in iranischen Traditionen oder die Zugehörigkeit bestimmter Personen zu religiösen Minoritäten, die einerseits eine lange Geschichte aufweisen, heute aber systematischer Verfolgung ausgesetzt sind, wie etwa Aramäer, sind Schlüssel. Als solche können sie Türen des Dialogs öffnen und das ohne jede Übertreibung. Es macht nicht einfach nur Spaß, sich mit Hafis und Ibn Khaldun auseinanderzusetzen oder die gesonderte Bedeutung des islamischen Gelehrtenzentrums Timbuktu zu kennen. Die Kenntnis solcher Kontexte kann eine wesentliche Voraussetzung sein, um ein Gespräch zu beginnen. Darüber hinaus ist es aber zwingend notwendig, sich darüber bewusst zu sein, dass bestimmte Verhaltensstandards und Strategien der Gesprächsführung, selbst unter Einsatz einer Handelssprache wie des Englischen, kulturell geprägt sind und wenn eine effektive Kommunikation in beidseitigem Einverständnis inklusive Kooperation zustande kommen soll, ist es wichtig, einiges über mögliche Strategien meines Gegenübers zu wissen. Der Ansatz sollte also Begegnung in der Mitte lauten, an Stelle der Assimilation neu Zugewanderter. Es lässt sich so viel Wissenswertes entdecken…

Darum also ist interkulturelles Wissen eine HR-Zukunftsressource:    

  • Weil „Man kann nicht nicht-kommunizieren!“ (Paul Watzlawick) und darum ist Kommunikation untereinander ALLES! Sie kann aber scheitern, wenn sie nicht bewusst angelegt ist.
  • Weil besonders die interkulturelle Kommunikation interkulturelles Wissen des Gegenüber bedarf.
  • Weil nach wie vor das Nichbeachten dieser Aspekte zur Verschwendung von unternehmensinternen Ressourcen führt.
  • Weil Diversität einen Schatz, ja eine große Ressource darstellt.
  • Weil jedoch leider nach wie vor nach dem Defizitschema gedacht wird und nicht ressourcenorientiert („Ist das Glas halb voll oder halb leer?).
  • Weil eine zukunftsfähige Unternehmensführung nur ein Perspektivwandel hin zur Ressourcenorientierung sein kann („War of talents“, „Fachkräftemangel“, Demografieentwicklung“…).
  • Weil das Wissen um diese kulturellen Zusammenhänge ein Schlüssel zu jener Ressource ist.

Nutzen Sie diese Chance und greifen Sie am besten heute noch das Thema des interkulturellen Wissens in Ihrem Unternehmen auf!

Welche Erfahrungen konnten Sie bisher in Ihrem Unternehmen mit Interkulturalität/ interkulturellem Wissen machen? Lassen Sie es uns in den Kommentaren wissen.

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