Warum Sie nicht alles digitalisieren sollten – GPS im Kopf

Im heutigen Beitrag hat wissenswertes-blog wieder die Ehre einen Artikel von Dr. Christian Peter Oehmichen veröffentlichen zu dürfen. Die Digitalisierung ist ein wichtiger zukunftstragender Prozess, der nicht mehr aufzuhalten ist. Und Wir können nur erahnen, wie unser Leben und unsere Arbeitswelt in 50 Jahren aussehen mag. Der folgende Artikel wird Ihnen eine ganz andere „Arbeitswelt“ aufzeigen. In Zeiten des Digitalisierungsbooms sollten Wir  nicht verlernen, dass Wir noch viele andere Möglichkeiten haben, mit unserem Wissen umzugehen und diese auch nutzen sollten.

Stellen sie sich vor, sie sitzen in einem etwa 8m langen Segelboot mitten auf hoher See. Sie sind umgeben von Wasser, soweit das Auge reicht und vor ihnen liegen noch ungefähr 800 km Seereise. Sie besitzen weder einen Kompass oder ein GPS, noch eine Sternenkarte oder eine Seekarte. Am Ende ihrer Reise wartet auf einer Insel ein Markt oder ein fischreiches Atoll. Die Rückreise ist nach einem kurzen Aufenthalt geplant. Vom glücklichen Verlauf der Reise hängen der sichere Fortbestand ihrer heimatlichen Dorfgemeinschaft und vor allem das Leben ihrer Bootsbesatzung ab. Was tun?

Genau das ist die Situation, die traditionelle Seefahrer und Navigatoren in Mikronesien seit mindestens 800 bis 1000 Jahren meistern müssen. Es handelt sich hierbei um ein ausgesprochen weitläufige Seegebiet im Westpazifik und da nur ca. 1% der mikronesischen Gesamtfläche aus Land besteht, hängt der Kontakt der weit auseinander liegenden Inselbewohner von den Kenntnissen und Erfahrungen der Seeleute ab. Wie jüngere Ausgrabungen der letzten 20 Jahre zeigen, gibt es eine Verwendung der noch heute geläufigsten Schiffstypen seit mindestens 1000 Jahren und angesichts der langen Distanzen ist auch dies ein Beleg für die Annahme, dass das mikronesische Navigationssystem ebenso alt sein muss. Austauschbeziehungen auf Seewegen haben zudem in Mikronesien neben ökonomischen auch rituelle Gründe, teilweise wurden weite Expeditionen extra nur aus rituellen Gründen unternommen. Die Reisewege können oft eine Länge von 400 km, das Doppelte und mehr haben, es handelt sich also nicht um bloße Ausflugstouren „mal eben zu den Nachbarn im anderen Dorf“. Wie lösen die Mikronesier das Problem, sicher am Ziel anzukommen und welche Werkzeuge und Mittel nutzen sie?  Die Antwort ist einfacher, als man zunächst annimmt. Die mikronesischen Navigatoren haben die Problemlösung einzig und ausschließlich in ihrem Kopf.

Faszinierend, was sagt mir das über Wissen in meiner Kultur?

Wir tendieren dazu immer mehr Wissen digital abzulegen, durchaus alles andere als risikofrei und uns wird auch immer suggeriert, es sei notwendig, 24/7 online ausschließlich neue Medien zu nutzen. Manche Länder gehen dazu über auf Hefte und Stifte in der Schule zu verzichten und stattdessen den Unterricht nur noch auf digitalen Whiteboards sowie Tabletts ablaufen zu lassen. Dennoch suchen auch einige Menschen in Sportarten wie Orientierungslaufen oder Mountainbiking nicht nur einen körperlichen Ausgleich sondern durchaus auch Abstand zur digitalisierten Welt in der Natur. Zugegeben einige von ihnen mit GPS etc., viele aber bewusst ohne.

Mikronesische Navigatoren nutzen ihrerseits ein komplexes System sogenannter „Mental Maps“ und fiktiver Referenzen, die in ihrem Gedächtnis –  verbunden mit speziellen Fertigkeiten-  quasi archiviert sind. Auf ein solches Gedächtnisarchiv können sie dann auf hoher See zurückgreifen, ohne externe Hilfsmittel einsetzen zu müssen.

Der bedeutende amerikanische Kognitionswissenschaftler Ed Hutchins, sowie die Anthropologen Alfred Gell und D´Andrade haben sich in den in den 90er Jahren intensiv mit der mikronesischen Navigation auseinandergesetzt und hierbei erstmals festgestellt, wie komplex und detailliert das System ist. Es wird schnell klar, dass ein solch umfangreiches Wissen sich auch Mikronesier, genau wie wir, sobald wir vielseitige Tätigkeiten neu lernen, nicht von heute auf morgen aneignen. Wenn wir an unsere Erfahrungen als Radfahrer*in denken und uns in die Zeit des Lernens in den Kindheitstagen zurückdenken, wird schnell klar, dass ein solches umfangreiches Wissen nicht nur mit viel Fleiß erlernt werden muss, sondern auch etliche Fehler zum Lernen dazu gehören. Beim Fahrradfahren sind wir mit Sicherheit einige Male hingefallen und haben uns eventuell auch ein blutiges Knie geholt, wahres trial and error.

Genauso ergeht es dem jungen Navigationsschüler auf einem Atoll in Mikronesien  Er muss sich als würdig erweisen, eine nautische Ausbildung zu erhalten. Erst dann beginnt seine Unterweisung, bei der er lernt, die für Mikronesien typische Stabkarten auswendig zu lernen und zu lesen. Stabkarten sind dreidimensionale Figuren aus Holz, welche häufig bestimmte Seegebiete inklusiven Atollen und Strömungen, aber auch Verläufe von Sternen am Himmel schematisch abbilden. Die Navigation in Mikronesien ist reine Männersache, der Unterricht findet im Haus des besten und einflussreichsten Navigatoren statt. Als eine Art Geheimwissen gehen die nautischen Kenntnisse an die Initianten weiter, deren Ausbildung eine langwierige und anspruchsvolle Aufgabe ist. Die Novizen lernen nicht nur die Stabkarten zu lesen, auf denen wichtige Strömungen und Inseln als Referenzpunkte vermerkt sind. Zur Ausbildung gehören auch die Kenntnis eines komplexen Sternenatlas zudem sämtlicher Verhaltensweisen und Techniken auf hoher See. Meeresströmungen spüren die Novizen auf, indem sie selbst stundenlang an bestimmten Stellen im Meer verbringen. Ebenfalls lernen sie Fischarten und Vögel kennen, die auf die Nähe einer Insel hinweisen. Darüber hinaus zeigen bestimmte Wolkenformen die Nähe einer Insel an, da sie sich über deren Lagunen oder Buchten bilden. Erst wenn sie all diese Elemente der Navigation beherrschen und in ihrem Gedächtnis gespeichert haben, werden sie als Navigatoren initiiert.

Während sich westliche Seeleute mit Hilfe von Seekarten, Kompass, Bojen und Leuchttürmen, sowie in den letzten 20 Jahren zunehmend auch mittels GPS orientieren, verlassen sich traditionelle Mikronesier nur auf sich selbst – auf ihr GPS im Kopf. Wenn alles schief läuft, kann trotz modernster Technik ein westlicher Navigator auf einem Kreuzfahrtschiff oder einer Marinefregatte immer noch bestimmte Positionen von Sternen im sogenannten nautischen Jahrbuch nachschlagen. Einem mikronesischen Navigator bleibt nur sein Gedächtnis.

Wie funktioniert dieses mikronesische GPS – System? Wie genau läuft die Orientierung ab?

Hauptsäule der mikronesischen Navigation ist ein komplexes Orientierungssystem – der Sternenkompass. Ähnlich dem nautischen Jahrbuch der westlichen Seenavigation, in dem Himmelspositionen von Sternen auf der jeweiligen Himmelshalbkugel sowie Abstände zu anderen Sternen vermerkt sind, beinhaltet der mikronesische Sternenkompass Entfernungen. Grundlegend besteht dieses System aus 16 Sternen mit ihren jeweiligen Aufgangs- und Untergangspunkten plus ihrer Verlaufsbahn am Horizont. Daraus ergeben sich  32 kardinale Punkte plus Verbindungslinien am Horizont. Doch nicht jeder Stern geht zur gleichen Zeit an derselben Stelle auf und unter. Erschwerend kommt hinzu, dass der Punkt, an dem ein Stern untergeht nicht immer mit dem Punkt übereinstimmt, an dem er am Horizont ersichtlich ist. Dies hängt mit der Nähe Mikronesiens zum Äquator zusammen. Für den mikronesischen Navigator bedeutet es, dass er für jede Jahreszeit und Tageszeit die 32 kardinalen Punkte kennen muss. Seine mentale Sternenkarte ist also eine interaktive. Sie beinhaltet die Bewegung der Sterne, deren Verlaufsstrecke der Sternenpfad ist. Um effektiv navigieren zu können reicht die Orientierung am Himmel nicht aus, erforderlich sind immer auch landbezogene Referenzpunkte. In der westlichen Welt haben wir für so etwas die terrestrische Navigation mit zusätzlichen Hilfsmitteln und externen Gedächtnisstützen, wie Bojen und Leuchttürmen. Wie die lateinische Wurzel terra schon sagt, bezieht sich dieses westliche System auf die Erde. Sie ist ein fiktives System, das die Erde mit einem dichten Muster aus Längen und Breitengraden überzieht, die jeweils noch in Minuten und Sekunden unterteilt werden. Hauptreferenzpunkt ist der Nullmeridian Greenwich in England. In Mikronesien aber dienen als landbezogenes Ergänzungssystem reelle und fiktive Inseln, die parallel zum jeweiligen Hauptkurs der Reise liegen. Gibt es keine reellen Inseln, dann haben die Mikronesier fiktive Inseln kreiert. Diese Inseln dienen als Landmarkierung, welche sie mental anpeilen und zu denen man die betreffenden Sterne mit dem aktuellen Sternenpfad abgleichen muss. Aus dem jeweils angepeilten Sternenpfad und der reellen oder fiktiven Referenzinsel ergibt sich eine ganz spezielle Distanzeinheit, der sogenannte étak. Ein étak ist keine absolut normierte Einheit wie unser Kilometer oder die nautische Seemeile, sondern eine generelle Einheit, welche eine spezielle Länge beinhaltet. Für jede Referenzinsel, sowie den Abstand der Referenzinseln untereinander auf dem Parallelkurs zum Reisekurs, existiert ein solcher étak, den der Navigator kennen muss. Zusätzlich muss er ihn permanent zu den zum jeweiligen Zeitpunkt auf hoher See anpeilbaren Sternen und Sternenpfaden und zum angenommenen Reisekurs abgleichen. Nur dann ist er in der Lage, auf alle aktuellen Situationen, wie Windstille oder Sturm reagieren  zu können. Eine Fehlnavigation könnte fatale Folgen haben.

Das mentale GPS traditioneller mikronesischer Navigatoren ist eine extreme Gedächtnisleistung und zeigt, wie komplex kognitive Systeme sog. „primitiver Kulturen“ aussehen können. Diese kognitive Leistung gibt auch die Antwort auf die Frage, wie im Laufe der Jahrhunderte in Mikronesien weit voneinander entfernt gelegene Inseln besiedelt wurden. Darüber hinaus stellt es ohne übertreiben zu wollen eines der wohl umfangreichsten und vielschichtigsten Beispiele mentaler Fähigkeiten der Menschheitsgeschichte dar. Nach heutigem Kenntnisstand kennen wir keine annähernd vergleichbare Leistung, einzelne Beispiele wie etwa die Botenläufer der alten Inka-Reiche, welche umfassende Botschaften im Gedächtnis gespeichert hatten oder die früheren Universalgelehrten, die ganze Bücher auswendig kannten, betonen aber immer nur einen Aspekt von Gedächtnisleistung. Das Beispiel der mikronesischen Navigation kombiniert pures Auswendiglernen mit interaktiven Elementen und vor allem dem Tun.

Wir tendieren dazu immer mehr in Clouds, Servern oder Festplatten abzuspeichern, sind häufig online, zudem wird uns in der Werbung häufig die künftige vollständige Digitalisierung und Medialisierung suggeriert. Analoge Systeme sind aber keines Wegs vollständig abgeschafft. Die Erfindung des E-Books und der E-Book-Reader hat keines Falls das Printmedium verdrängt, denn der Marktanteil liegt in Deutschland immer noch bei nur leicht über 4 %. Indem wir Wissen rein digitalisieren, laufen wir Gefahr die Notwendigkeit es uns anzueignen und durch aktives Tun in seiner Anwendung zu erfassen, zu vermindern oder sogar zu verlernen. Und das schreibe ich hoch online-affiner Mensch als Hinweis an uns alle, mich mit eingeschlossen. Der Einfluss von GPS ist auch in Mikronesien ersichtlich, eine Abhängigkeit von einem globalen Monopolisten ebenfalls ersichtlich mit ähnlichen Auswirkungen. Vergleichbar zu seltenen indigenen Sprachen mit eigener Erzähltradition und Geschichte wird auch hier kaum noch ein Wert darin gesehen, diese alte Tradition zu bewahren. Das in Philadelphia ansässige Penn Museum und der Restaurator Steve Thomas haben sich jeweils separat um einen Erhalt dieser Tradition bemüht, im Zentrum stand hierbei auch die Arbeit Mau Piailugs, des letzten großen mikronesischen Navigators. Er hatte zuletzt eine Schule für Navigation aufgebaut und in den 90er Jahren eine medienwirksame Fahrt nach Hawaii ohne Hilfsmittel unternommen. Im Jahre 2010 verstarb  er und war zu Lebzeiten einer von fünf letzten Meistern der Navigation.

Was wir also von dieser Tradition lernen können, ist mentale Unabhängigkeit, denn jede Technik kann versagen, ausfallen oder abstürzen. Wertvolle Daten können somit unwiederbringlich verloren gehen oder zumindest Arbeitsprozesse müssen vollständig widerholt werden. Der Umgang mit einfachen analogen Techniken schult nicht nur die motorischen Fähigkeiten sondern hält auch mental fit. Je vielseitiger die kognitiven Aktivitäten, desto mehr leistet man einen Beitrag zur neurologischen Gesundheit und diese fängt durchaus mit kleinen Aktivitäten an. Komplexe motorische Lernprozesse und Gedächtnisleistungen wirken sich aber auch auf andere Bereiche positiv aus, sie fördern begleitend die generelle Lernfähigkeit und mentale Aktivität. Technik sollte also immer nur ein Hilfsmittel sein, um kulturelle Vielfalt zu bewahren gilt es ebenfalls die traditionellen Methoden und Kenntnisse fortleben zu lassen. Welche schlummernde Fähigkeit oder was für vergessenes Wissen möchten Sie gerne wieder bei sich oder Ihren Mitarbeitern wiederentdecken? Lassen Sie es uns doch in den Kommentaren wissen!

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